Ich will meine „Heile Welt“ zurück

Das Vermögen, Worte formen zu können, was auf einer bestimmten Mutation des Kehlkopfes beruht, soll angeblich darüber entschieden haben, dass der Mensch einen Siegeszug über die Tierwelt zum herrschenden Homo Sapiens Sapiens antreten konnte. 

Es war in der grauen Vorzeit der Menschheit, als sich die ersten von ihnen gerade so auf zwei Füße zu erheben begann und mit baffem Erstaunen feststellten, dass sie außer Uh-Uh noch andere Töne hervorbringen konnten, die der Lucerich im Dunkel der Höhle seiner Lucy zuflüsterte, um keine Steinzeitlöwen aufzuschrecken, denn sie lebten ja in Afrika. 

Gedanken über Sprache und Gefühle 

Seitdem hat die Sprache riesige Entwicklungen durchlaufen. Hauptsächlich beim Turmbau zu Babel wurde die Schöpfung kreativ und hat, wohl um den Größenwahn der neuen Menschen zu dämpfen, einige Dialekte eingeführt. Würde man heutige Sprachwissenschaftler nach der Anzahl der Sprachen fragen, würden sie zähneknirschend etwas von 7000 murmeln, ohne Dialekte jeglicher Art. Man weiss es schlichtweg nicht. Wohl aber stellt man schon innerhalb eines Landes fest, dass Nordler und Südler sich bei Nutzung ihrer Lokalfärbungen schon nicht mehr so irrtumsfrei verstehen können. Jedes Wort in seiner Bedeutung trägt eine unterschwellige Nachricht, die ein Gefühl bei dem Gegenüber auslöst, sei es bewusst oder unbewusst.

Als die Worte laufen lernten

Während der letzten fünfundfünfzig Jahre, die ich bewusst mental aktiv auf diesem Planeten bin, konnte ich feststellen, dass Sprache und mit ihr die Kommunikation und die Darstellung in den Medien sich auch in ihren empathischen Tonlagen den menschlichen Entwicklung und Lebensweise anpasst.

Unschwer feststellen lässt sich das heute an Movies, die man früher einmal Filme nannte. Noch intensiver als in Büchern wird in filmischer Manier auf die Empfindsamkeit, die vielfältigen Sensoren des Menschen eingespielt. Die Kombination der visuellen Nachricht mit Tonstärke, Tonfärbung, Musik und Wortwahl bewirkt ungleich mehr als das geschriebene Wort selbst. 

Kreisch!!! – Plötzlich dieser schrille Ton, der einen auffahren lässt und den Puls mal eben gruselwohlig nach oben treibt. Peng!!! – Wie die Kugel massal eindringt, das Fleisch genüsslich zerfetzt und Eingeweide und Blut gleichermassen dekorativ auf der Kameralinse verteilt. Das Ganze in 3D, damit man als Zuschauer auch wirklich das Gefühl hat, man sitzt nicht nur davor, sondern ist mitten drin. Egal auf welchen Sendern, ob Trash-TV oder Streaming, ein Krimi jagt den nächsten, jedes Endzeit-Szenario eine neue Apokalypse, Zombies werden von Monstern verfolgt und Transmutanten mit heraushängenden Augäpfeln klauen kleine Kinder. Asoziale Reality Shows zeigen uns, dass es noch schlimmer kommen kann – gibt es einem nicht so ein Stück Zufriedenheit, wenn man weiß, dass andere noch dümmer und asozialer sind als man selbst? Egal, ob sie stinkreich oder bitterarm sind? Und natürlich gibt es dazu die entsprechende Sprache. Kein Wohlklang, wenig und einfache Vokabeln, kurze Sätze, dafür aber gespickt mit brutalen Flüchen und unappetitlichen Schimpfworten, für die man eigentlich den Mund mit Seife spülen sollte.  So manchmal denke ich, die Menschen sollten ihren Wortschaft auf ihrer Haut tätowiert tragen müssen … wie viele würde man dann wohl noch als „schön“ bezeichnet?

Dies alles garniert mit Berichten aus aller Welt, wo Terroristen gleich welcher Couleur unschuldigen Opfern in die Bäuche schießen, dass die Eingeweide in den Rinnstein schwimmen – getreulich aufgezeichnet vom „embedded“ Berichterstatter – eigentlich kommt „embedded“ ja von so etwas wie gemeinsam im Bett liegen. Was für ein Begriff für einen Reporter, der Gräueltaten aufzeichnet? Mit wem ist er eigentlich embedded? Mit den Schiessenden oder den Erschossenen?

Der Panik-Sprech

Und natürlich die allgegenwärtige Panik, die in den letzten zwanzig Jahren seit dem Fall der Twin-Tower überhaupt nicht mehr zum Stillstand gekommen ist und aus allen Ecken der Welt ans Licht drängt. So ziemlich alles unterwarf sich einer Kriegssprache. Man wurde strategisch, rief den Krieg gegen Drogen, Terror, Dummheit und Fußpilz aus. Egal ob im Büro am Konferenztisch oder zu Hause beim Abendessen: Sprache, Ausdruck, Mimik und das damit verbundene Benehmen wurde zunehmend kriegerischer und fokussierte mehr auf das Gegen – als auf das Miteinander. Filme und Medien spielten es vor – und der Mensch spielte es nach, akzeptierte nach und nach, was ihm gezeigt wurde. Und plötzlich waren Dinge nicht mehr grausam. Man wandte sich nicht mehr ab, sondern hechelte mit heraushängender Zunge nach der nächsten Gräueltat, nach dem nächsten Blutbad, nach dem nächsten Unfall auf der Autobahn, mit zunehmend verrohender Sprache.

Hinzu kamen verstärkt in den letzten Jahren Worte wie Angst, Enge, Bedrohung, Sorge, Furcht, Bedenken, Unsicherheit, Grauen, Bußgeld, Unruhe, Kummer, Krankheit, Befürchtung, Entsetzen, Unrast, Strafe, Tod, Besorgnis, Schreck, Langzeitfolgen, Unbehagen, Feigheit, Bange, Verantwortungslosigkeit, social distancing, lockdown … ups, bei letzteren scheinen uns die vielfältigen Sprachen inzwischen abhandengekommen zu sein, weltweit scheint ein Einheitspanik-Sprech übernommen zu haben. Gebannt hängt der Mensch von den Arktissen bis zum Äquator vor dem Glotz-Kasten, am Handy, am Computer, wo schon beinahe sekündlich die neuesten Abscheulichkeit in breitestem Angst-Slang verkündet werden (Angst benutzt man übrigens auch in anderen Sprachen in seiner Original deutschen Form,  unübersetzbar in seiner tiefsten Bedeutung). Man zittert förmlich morgens vor dem Aufstehen schon, denn der Tag wird wieder nichts Gutes bringen – und man kann sich vor schlechten Nachrichten gar nicht mehr retten. Zumal man sowieso nirgends anders mehr hin kann, um der Informationsflut zu entfleuchen. 

Die Sprache ist die Kleidung der Gedanken

Diese Aussage stammt von Samuel Johnson, und genau das habe ich in den letzten Jahrzehnten auch so beobachten können. Dabei ist es völlig unerheblich, was zuerst da war, der Gedanke oder die Sprache. Es ist ein Kreislauf … es fängt irgendwo mit dem Gedanken an, wird zur Sprache, die unreflektiert übernommen wird und wieder neue Gedanken erzeugt, die zur Sprache werden. Leider in den letzten 50 Jahren in einer Negativ-Spirale.

Aber das können wir umdrehen! Mir ist an mir selbst etwas aufgefallen, und ich möchte Euch davon erzählen. Ich habe im Panik-Lockdown natürlich wie so viele andere auch „gestreamt“ und Überschriften auf dem Computer überflogen. (Nachrichten im TV oder Zeitung schaue ich schon ewig keine mehr. Das reecht mich einfach ville zu seer uff.) Und bin auf eine Serie gestossen … Der Titel hatte mich angesprochen, nachdem ich die Kleinkrimis leid war, Kriegs-, Horror- und Katastrophenfilme ohnehin schon immer ablehnte und mir den täglichen TV-Einheitsbrei auch nicht zuführen wollte. Und ich fand einen ungewöhnlichen Film für die heutige Zeit, eine Serie: keine Genderprobleme, kein Rassismus, keine Debatten über Korruptionen, Diktaturen, Kriege, keine Zerstörung, keine Gewalt, kein Psychokram oder andere Tiefen der menschlichen Existenz – einfach nur heile Welt, harmonische Musik, freundliche gewaltfreie Sprache, höfliches und respektvolles  Benehmen, soziales Miteinander mit allen und jedem … Kinder, war das erholsam! 

Klar, vielleicht bin ich so eine Heile-Welt-Maus. Ich habe ja schon als Kind Heimatfilme und Operetten mit meiner Mutter geguckt, die immer problemfrei ein Happy End lieferten und wo selbst der Schurke noch eine liebenswerte Seite hatte. Vor ein paar Jahrzehnten lachte man darüber: Heimatfilme… so ein Gesülze … wo gibt es das schon … dieses Heile-Welt-Getue …! Das entspricht doch nicht der Wirklichkeit. Ich habe erst jetzt begriffen, dass die Menschen, damals nach den Kriegsjahren, genau dieses „Heile-Welt-Getue“ brauchten. Weltweit hatte der Krieg zugeschlagen und überall mussten Menschen gewaltige Traumata bewältigen, egal ob Freund oder Feind. Da war diese Art von Unterhaltung – seichte Schlager und seichte Filme – genau das, was Balsam auf die geschundene Seele gab und den Menschen wieder an ein Morgen glauben ließ, seine Kräfte mobilisierte, die letztendlich zum Wirtschaftswunder und einem unvergleichlichen Innovationsschub führten und die Nachkriegsgenerationen ein nie zuvor gekanntes Wohlstandsleben genießen ließ – jedenfalls in einigen Teilen der Welt. 

Wenn es der Kuh zu gut geht, geht sie auf’s Eis! – Ein dummer Spruch. Trotzdem: Den Kindern der Kriegsgenerationen fehlte Spannung und Abenteuer. Arbeiten, Sparen, Häusle bauen, Friede Freude Eierkuchen … war nicht mehr angesagt. Man hatte keine Traumata, die man vergessen wollte, im Gegenteil. Man suchte Abenteuer, Sex, Schnellheit, Geld, Gier, Macht, Wohlstand, .. immer mehr, immer grösser, immer wilder, immer brutaler, immer selbstsüchtiger, immer egoistischer, immer aggressiver, immer polarisierender, immer schneller der Propeller, immer … Kreisch! – Da ist er wieder, der schrille Ton! 

Ich habe keine Lust mehr auf schrille Töne.

Kreisch! Bumm! Peng! Irre Schreie, laute Worte, Dagegen-Sein um des Dagegen-Seins willen – das brauche ich nicht mehr, ich will meine Heile-Welt zurück! Und diese Serie, die ich da auf einem Streaming Portal fand, projizierte genau das.  

Und so befolgte ich den Befehl des social distancing bis aufs kleinste Detail … und distanzierte mich von allem: von den Nachrichten, von den Zeitungen, vom Konsum, von den Brutalo-Filmen, von den Horrorbüchern, von den teilweise absurden social media Diskussionen, von den Dr. Dooms, die mir Zahlensalat vor die Füße zu werfen versuchen und meinen, mir ihre eigenen Ängste einhauchen zu müssen.

Ich suchte mir angenehmes Lesematerial, bearbeitete mein Blumenbeet, traf und sprach nur noch mit Menschen, die ähnlich wie ich das Positive suchen, meditieren, sich mit dem Kosmos, dem Bewusstsein und dessen vielfältigen Ausprägungen beschäftigen, Freunden helfen und etwas Gutes tun wollen, Ruhe und Zufriedenheit suchen – und schaute abends Heile-Welt-Filme: mit einer Bürgermeisterin, die wirklich das Beste für ihre Stadt tat, Ladenbesitzern, die ihren Kunden keinen Schund andrehen, sondern sogar einmal etwas verschenken. Ärzte, die sich auch nach Praxisschluss noch Gedanken um ihre Patienten machen. Polizisten, die den Bewohnern knüppelfrei und ohne Robocop-Verkleidung die Einkaufstauschen tragen und Kinder, die nicht nur maulen und wollen, sondern es selbstverständlich finden, auch Pflichten zu haben – und – dem Drehbuchschreiber sei Dank – sich freundlich und höflich ausdrücken, sogar untereinander. Man nannte sich beim Namen und nicht „Alder“ und „Bitch“. Es drehte sich um das Kleinstadtleben und wie man das Beste aus seinem Leben macht mit gegenseitigem Respekt, gegenseitiger Anteilnahme, Nachbarschaftshilfe, mit Lachen und Freundlichkeit und all diesem Zeugs, das schon jahrzehntelang aus der Mode ist und an das ich mich nur aus meiner Kindheit erinnere. 

Was soll ich Euch sagen?

  • Mein Angstpegel ist massiv gesunken – ich merke das daran, dass dieser permanente Druck im Magen verschwunden ist.
  • Mein Stresspiegel hat sich merklich verringert – ich merke das daran, dass ich wunderbar durchschlafe.
  • Meine Aggressivität ist weg – ich merke das daran, dass ich meine Gesprächspartner nicht mehr anmaule, sondern mir in Ruhe anhöre, was sie sagen und gemeinsam mit ihnen lachen oder weinen kann.
  • Meine Kreativität hat sich vervielfacht – ich merke das daran, dass ich plötzlich male, wieder mehr schreibe, Zeit habe für inspirierende Telefonate habe und mal über meine eigenen Gedanken, Ziele, Wünsche und Vorstellungen nachdenke.
  • Ich habe mehr Geduld und gute Laune  – ich merke das daran, dass ich Callcenter-Mitarbeitern nicht mehr anmache, sondern gut gelaunt froh darüber bin, dass ich diesen nervigen Job nicht machen muss. Und mich bei ihnen bedanke, dass sie mir weiterhelfen, so gut sie eben können. Ich bin liebenswürdiger geworden – ich merke das daran, dass ich mich selbst plötzlich leiden mag. 
  • Ich bin dankbar geworden – ich merke das daran, dass ich plötzlich viele schöne Dinge um mich herum sehe, die Natur, den Tautropfen, das Lächeln der Katze, so vieles, was ich sonst nie wahrgenommen habe.
  • Ich habe gewonnen – ich merke das daran, dass sich plötzlich in meinem Freundeskreis viele neue und alte wirkliche Freunde tummeln, für die Nehmen und Geben dasselbe bedeutet wie für mich.

Ah – ich lebe nicht realistisch, sagst Du, ich gehe nicht mit der Zeit, sagst Du, ich kümmere mich nicht um das aktuelle Geschehen, sagst Du? … Nein! Tue ich nicht. Muss ich auch nicht! Ich kümmere mich um mich, um den Kreis von Leben um mich herum, den ich beeinflussen kann und von dem ich beeinflusst werde. Mehr als diesen Zirkel kann ich sowieso nicht erreichen. Und das alles mache ich neuerdings mit mehr Nachdenken, mit mehr Aufmerksamkeit, mit mehr Engagement, mit freundlicheren Gesten, freundlicherem Gesichtsausdruck und vor allem mit einer weitaus freundlicheren Sprache und freundlicheren Worten. Somit, denke ich, leiste ich doch meinen Beitrag zum friedlichen, freundlichen und entspannten Zusammenleben. Wenn ich auch „nur“ vor meiner eigenen Haustüre kehre.

Wie gut, dass es wieder solche „Heimatfilme“ gibt!

Und so wie Filme seit damals unsere Sprache und unser Benehmen beeinflussen, tuen es die neuen Heimatfilme also auch!  

Und vielleicht brauchen auch wir gerade mal wieder „Heile-Welt-Getue“, um die ganzen Traumata der letzten fünfzig Jahre Wohlstand und Terror abzuschütteln und bewältigen zu können und wieder zu einem freundlichen Miteinander zu kommen – mit allen und allem!