Patricia Holland Moritz hat sich für ihr neuestes Werk „Der Menschenleser“ eine wahre Begebenheit zum Thema genommen: die Eberswalder Knabenmorde, die der Kochlehrling Erwin Hagedorn 1969 an zwei neunjährigen Schülern verübte. Später kam noch ein dritter hinzu. Holland Moritz‘ Buch verfolgt den Lebenslauf und die Ermittlungen ihres im Buch fiktiv „Joachim Klinger“ genannten pädophilen Blutsadisten bis hin zu seiner Hinrichtung in Leipzig (die von Erwin Hagedorn war im Übrigens die letzte Hinrichtung in der DDR in den 1970er Jahren).
Der Menschenleser reflektiert auf den Berliner Gerichtspsychiater Hans Szewczyk, in ihrem Buch Paul Semper, der als einziger in der Lage ist, ein Täterprofil zu erstellen – während sich der restliche Apparatschnik damit beschäftigt, möglichst partei- und staatskonform nichts herausdringen zu lassen, was dem Arbeiter- und Bauernstaat schaden oder die eigene Karriere behindern könnte. Die eigentliche Aufklärung des Falles ist Semper zu verdanken, auch wenn er sich erst spät in die Ermittlungen einschalten darf.
Das Buch ist ein Panoptikum gestörter Beziehungen, Gefühlskälte und dem Nicht-verstehen von Menschen, die sich allein gelassen fühlen in einem Wachsfigurenkabinett der Nachkriegszeit, das die Traumata der Vergangenheit noch lange nicht bewältigt hat. Mit denen kämpft jeder einzelne, Normalität vortäuschend, selbst und für sich allein. Dass Pädophilie und mentale Dysfunktion nicht nur etwas sind, was im sozialistischen Teil Deutschlands, der DDR, möglich war, zeigen die Querverweise zum Füll Jürgen Bartsch, das ähnlich an Kälte und Ablehnung leidende Westdeutsche Pendant, der ebenfalls als Kindermörder in die Kriminalgeschichte einging.
Ich, aufgewachsen in und mit den Hintergrund der BRD, kannte Bartsch aus den Zeitungen, aber ich kannte nicht seine Geschichte. Die Hintergründe und Lebensgeschichte eines Monstres wurden damals öffentlich nicht näher behandelt. Die eines Kindermörders in Eberswalde natürlich auch nicht.
Obwohl manch einer in Grenznähe – so auch wir – Ostfernsehen und den „Schwarzen Kanal“ ab und zu schaute, waren wir doch weit davon entfernt, die Lebensweise der andern Deutschen, der DDR, verstehen zu können oder auch nur zu wollen. In dieser Hinsicht war das Buch für mich ein Augenöffner. Das „Grau“, das ich als so kennzeichnend fand, als ich kurz nach Grenzöffnung das erste Mal in den Osten fuhr, kommt in diesem Buch greifend zum Ausdruck, berührt die Seele möchte ich fast sagen – und man fragt sich, wieso eigentlich erst jetzt. Wieso habe ich während der letzten dreißig Jahre nicht wenigstens einmal versucht, die ehemalige DDR und ihre Menschen ein wenig kennenzulernen und zu verstehen. Sind wir Wessis wirklich so arrogant?
Beeindruckend ist die Kälte des Romans, die Trostlosigkeit der Situation an sich und die Hoffnungslosigkeit der Romanfiguren, die beinahe unmerklich aus den Zeilen kriechen, aber noch lange danach den Leser gefangen halten und beschäftigten. Vielleicht gerade weil sie nicht eindrucksvoll beschrieben wurden, sondern einfach als Tatsachen, als Hintergrund fast wortlos formuliert sind. Sie untermalen jede einzelne der Figuren, ob Kommissar, Eltern der getöteten Kinder oder Mörder.
Staccato Sätze wie die Eintönigkeit der Plattenbauten, mitunter ganze Passagen. Sprachlosigkeit. Keine großen Beschreibungen. Patricia Holland Moritz erzählt Fakten. Auch emotionale. Wie sie darin diese den Leser berührende Gefühlswelt untergebracht hat, ist einzigartig. Sie urteilt nicht, sie beschreibt aus der jeweiligen Sicht. Und trotzdem: in all der Kälte sind ihre Akteure Menschen. Und so rufen auch die Kindermörder Jürgen Bartsch und Joachim Klinger Verständnis des Lesers, ja sogar Mitleid hervor.
„Zum Überleben bekommt die Hoffnung noch ein Abendbrot“, beschreibt sie das Warten der Eltern auf die Kinder, von denen sie schon längst im tiefsten Innern wissen, dass sie sie nie wiedersehen werden. Und gleitet die Autorin doch einmal bewusst in das Beschreibende ab, wird der Leser im nächsten Satz schon wieder brachial auf den Boden der tristen Tatsachen zurückgebracht, versteht, dass sich in diesem Umfeld ein Ausflug in die Schönheit nicht lohnt, weil es in dieser Geschichte keine Schönheit gibt.
Trotzdem habe ich das Buch nicht zuklappen können, nachdem ich einmal anfing zu lesen. Es fasziniert und der einfache Stil des Schreibens macht die Schwere des Stoffes erträglich. Zurück bleibe ich nach der letzten Seite mit der Frage: Können wir als Menschen, als Gesellschaft, so etwas wirklich nicht rechtzeitig erkennen und verhindern? Liegt es daran, dass sich Menschen wie Bartsch und Klinger zu gut verstellen oder liegt es daran, dass wir uns einfach zu wenig um sie kümmern? Uns überhaupt zu wenig umeinander kümmern. Eltern um ihre Kinder. Nachbarn um ihre Nachbarn und Menschen um Menschen. Mich fröstelt…..
FAZIT: Ein Buch, das unter die Haut geht. Spannend, obwohl man die Geschichte selbst mit kurzem Googeln erfahren kann.
Übrigens, von Patricia und ihren Büchern gibt es hier noch mehr Informationen.